Reportage // Korn und Kummer

 

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1500 Menschen leben in der Grohner Düne. 1500 Geschichten erzählt der Hochhauskomplex. Walters Geschichte ist eine davon. Er trinkt Korn. Und Bier. Er tanzt. Und schweigt. Eine Nacht bei Walter.

Walter hat die Fenster mit zwei großen Decken verhangen. Tagsüber sitzt er auf seinem Balkon. Arbeiten tut er nicht. Hat er noch nie. An diesem Nachmittag ist von fern eine Sirene zu hören. Walter wird nervös. Seine Mutter musste vor zwei Jahren plötzlich ins Krankenhaus, sie bekam einen Bypass gelegt. Seitdem hat er Angst, dass sie sie wieder abholen. Ein Krankenwagen kommt vorbei. Walter fährt mit dem Fahrstuhl ein paar Etagen höher. Er will schauen, ob seine Mutter wieder einen Herzinfarkt hatte. Ihr geht es gut. Die Mutter gibt ihm fünf Euro und zwei Brotscheiben mit auf dem Weg. Mit dem Geld kauft er für gewöhnlich Korn für den Abend. Heute nicht, denn die vier Flaschen Haake Beck, die ich mitgebracht haben, reichen ihm.

Wie alt Walter wohl sein mag? Verraten will er es nicht. 45, oder so gar 50. Seine Augen sind eingefallen und blicken überall hin, bloß nicht zum Gegenüber. Wenn das Licht des Fernsehers sich mit dem der Deckenlampe mischt, schimmert Walters volles Haar in den verschiedensten Grautönen. Früher war es vielleicht mal schwarz. Aber ein Früher ist bei Walter schwer vorstellbar. Seine verwaschene Hose und seine abgetragene Cape lassen ihn wie ein Foto aussehen, was schon vor Ewigkeiten geschossen wurde und dann in Vergessenheit geriet.

Ein bisschen eitel ist er schon. Fotografiert werden möchte er nicht. Oder ist er paranoid? Der Schreibblock, auf dem diese Reportage entsteht, macht ihn nervös. Der Block soll vorgelesen werden. Walter ist unzufrieden. Streich das alles weg, sagt er. Walter wird in dieser Nacht geboren. Seine wahre Identität möchte er nicht preisgeben. Walter hat Angst, dass die Leute vom Kiosk unten ihn auslachen, wenn sie das hier über ihn lesen.

Walter legt eine DVD in den Player ein. Wenn der Gitarrist von Peter Maffay sein Solo spielt, nimmt sich Walter seine Sonnenbrille, setzt sie auf und tanzt. Walter kann nach einer Flasche Korn immer noch stehen. Er dreht die Lautstärke auf. Walters Nachbar kommt zu Besuch. Frank sitzt im Rollstuhl, vor Wochen hat er sich seinen Arm gebrochen. Er tut immer noch weh. Als die DVD zum nächsten Song übergeht, lässt der Nachbar sein angefangenes Bier stehen und rollt zurück in seine Wohnung nebenan. Walter hat das oft erlebt. Das war das Lied von Frank und seiner Frau. Jetzt ist Frank Witwer und muss weinen, wenn Peter Maffay über Liebe singt. Seine Frau hatte Krebs.

Um Punkt acht Uhr sagt Walter, dass er sich jetzt zum Schlafen fertig macht. Im Bad gibt es nur einen Nassrasierer. Keine Zahnbürste. Walter legt sich auf seine ausziehbare Schlafcouch im Wohnzimmer, das in seiner Einzimmerwohnung mit der Küche verschmilzt. Dann steht er wieder auf. Er raucht eine dunkelbraune Zigarillo. Der Tabak riecht nach Schweiß. Die ganze Wohnung riecht nach Schweiß. Walter raucht ein Viertel seiner Zigarillo auf. Die Züge sind tief und lang. Dann hustet er. Zigaretten kosten das doppelte. Der günstige Korn vom Kiosk macht Kopfschmerzen, sagt er. Er schüttelt sich und trinkt noch einen Schluck. Dann legt er den Stummel in den vollen Aschenbecher.

Er lässt den Fernseher an. Nachts möchte Walter nicht alleine sein. Er legt sich hin, steht wieder auf. Setzt sich in seinen Sessel, trinkt und raucht. Er ruft seine Freundin an. Die Freundin sagt, dass sie nicht kommt. Es ist drei Uhr. Sonst nervt es Walter, wenn sie so spät noch anruft. Heute hat er es getan.

Als Walter irgendwann auf seiner Schlafcouch einschläft, fängt er laut an zu schnarchen; Neben seiner Couch eine leere Flasche Bier. Als es Morgen wird, läuft der Fernseher immer noch. Tennis.

 

Die komplette Ausgabe der Zeitschrift der Straße Grohner Düne (Heft #29) kann kostenlos angeschaut werden.

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