Hass im Berliner S-Bahnring

Vier Männer tragen ihre dunklen Mäntel offen wie sie ihre Ideologie aussprechen, dass mir sich der Magen dreht. Mit spitzen Schuhen treten sie ein, nehmen sich Platz. Samstagabend im Berliner S-Bahnring: ein Fazit.

An der nächsten Station Berlin-Westkreuz steigt ein schlaksiger Typ dazu, blickt kurz neugierig von den blanken Lederschuhen der Männer hoch in ihre jungen Gesichter. „Wollt ihr auf eine Halloween-Party oder wohin?“, fragt er unsicher. Vielleicht weil er nicht weiß, ob die Vier seinen Spaß verstehen. „So ähnlich“, antwortet der Korpulenteste kurz angebunden. Als der Zeitungsverkäufer merkt, dass niemand wirklich auf seinen Gag eingehen wird, fragt er weiter, ob sie ihm Geld für eine Zeitung geben. „Wir zahlen nur mit Scheck“, antwortet der Korpulente erneut. „Schade, ich hätte auch Kartenzahlung akzeptiert.“ Diesmal drängt der Verkäufer sich gleich an den Vier vorbei, ohne eine Antwort abzuwarten.

Während der gesamten Fahrt ergreift der junge Mann immer wieder das Wort, oder fährt den anderen damit über ihr eigenes. Ich will nicht alles aufzählen, was er von sich gibt, um die öffentliche Plattform, die er offensichtlich sucht, nicht noch zu verstärken. Die anderen drei fungieren eher als Stichwortgeber – liefern neue Anspielungen, die der Wortführer zu rassistischen Äußerungen zuspitzt.

„To the right, to the right“, singt der korpulente Mann jetzt. Sein Lied klingt wie ein monotoner Militärmarsch. Niemand scheint wirklich hinzuhören. Eine Gruppe Frauen unterhält sich weiter auf Englisch. Ein Mann im Leopardenmantel schaut schweigend aus dem Fenster, vielleicht desinteressiert.

„Klingt fast wie die erste Strophe der deutschen Nationalhymne“, fällt dem Wortführer selbst zu seinem Gesang ein. „Ist das nicht eher die zweite oder dritte?“, fragt ein anderer der Vier, mit blondem Haar. „Man kann die Strophen doch sowieso nicht unterscheiden“, antwortet der Wortführer. „Außerdem war das nur als Hyperbel gemeint.“ Eine Hyperbel also. Ein sprachliches Stilmittel der Übertreibung, google ich später. „Hyperbeln verwende ich auch gerne“, sagt der Blonde und grinst. Die Relativierung der NS-Zeit als nur ein „Sprachwitz“? Eine literarische Zuspitzung? Ein Stilmittel? In meinen Ohren klingt das alles recht irre. Dennoch ist es wichtig den Kontext genauer zu differenzieren.

Konkret zur Situation in der S-Bahn: Das so genannte Deutschlandlied wurde 1841 von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben geschrieben und wurde in der Zeit des Nationalsozialismus (1933-1945) zu Propagandazwecken umgedeutet & nur noch die erste Strophe gesungen, die damals Nazi-Deutschland über alle anderen stellen sollte. Dies war eine Form der politischen Manipulation, bei der das Lied als ein Symbol der nationalsozialistischen Ideologie verwendet wurde.

Darum ist die Relativierung der NS-Zeit nicht nur ein Problem, sondern eine Straftat: In der Vergangenheit fiel besonders prominent der AfD-Politiker Alexander Gauland mit seine Relativierung der NS-Zeit auf, die er mit einem „Vogelschiss in der Geschichte“ verglich. Ein aktuelles Beispiel ist der Abgeordnete Daniel Halemba, ein Burschenschaftler in den Reihen der AfD, der noch vor der ersten Sitzung des Bayrischen Landtags am 30. Oktober 2023 verhaftet wurde. Der Grund: Staatsanwaltschaft und Polizei ermitteln wegen des Verdachts auf Volksverhetzung und Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen gegen den 22-Jährigen. Halemba ist Mitglied der rechtsextremen Burschenschaft Teutonia Prag zu Würzburg. Bei einer Durchsuchung eines Verbindungshauses in Würzburg wurde ein Gästebuch entdeckt, in dem Halemba mit „Sieg Heil“ unterzeichnet haben soll.

Die industrielle Ermordung von 6 Millionen Jüdinnen und Juden durch die Nationalsozialisten ist ein grausames Menschheitsverbrechen und einzigartig in der Geschichte. Insbesondere der Holocaust lässt sich weder mit einem „Vogelschiss“ noch mit anderen Vergleichen relativieren, die zur Verharmlosung, Beleidigung oder sonstigen Abwertungen der Opfer in der NS-Zeit führen. So ist die Nutzung des so genannten Hitlergruß eine Straftat nach § 86a des Strafgesetzbuches (Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe) und kann auch als Volksverhetzung wie beim AfD-Abgeordneten Halemba nach § 130 StGB verfolgt werden, wenn er dazu dienen soll, andere Menschen zu beleidigen oder zu verärgern.

Das Deutschlandlied, dessen dritte Strophe heute die offizielle deutsche Nationalhymne ist, war nach dem Zweiten Weltkrieg durch Nationalsozialismus, Diktatur und Krieg so negativ besetzt, dass viele es eigentlich gar nicht als Nationalhymne haben wollten. Es ist also wichtig, den Kontext zu nennen, denn auch solche Aussagen wie in der S-Bahn führen zur Verharmlosung der NS-Zeit.

(1) https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/501388/vor-95-jahren-das-lied-der-deutschen-wird-nationalhymne/

(2) https://www.bpb.de/themen/politisches-system/politik-einfach-fuer-alle/508032/die-opfer-des-nationalsozialismus/

(3) https://taz.de/AfD-in-Bayern/!5977692/

Der korpulente Mann fragt nun laut in die Runde: „Warum ist für manche Tradition und Burschenschaft überhaupt ein Problem?“ Ich selbst weiß nicht, was ich auf diese Frage antworten soll und stehe nur stumm daneben. Die ganze S-Bahnfahrt über habe ich ein flaues Gefühl im Magen und möchte die Frage deshalb später nicht unbeantwortet lassen.

Darum sind Burschenschaften ein Problem: Burschenschaften sind seit ihrer Gründung eng mit völkisch-nationalem Gedankengut verbunden. Antisemitismus hat sie von Anfang an begleitet und ist ein Kernelement vieler Burschenschaften. Dies unterscheidet sie von anderen Studentenverbindungen, die nicht so stark von solchen Ideologien geprägt sind.

Die Deutsche Burschenschaft (DB) ist der größte und älteste Dachverband schlagender Burschenschaften in Deutschland. Bei schlagenden Burschenschaften gehört es zum Brauch, sich mit Säbeln zu duellieren. Die DB wurde 1867 gegründet und hat heute über 1.300 Mitglieder in 120 Mitgliedsbünden. Sie lehnt Liberalismus, Feminismus und Multikulturalismus ab. Noch radikaler ist die Burschenschaftliche Gemeinschaft (BG), die geschlechtsspezifische und rassistische Unterschiede in Fähigkeiten und Verhalten als erblich determiniert ansieht. Sie wurde 1898 gegründet, hat heute etwa 300 Mitglieder und gilt als „nicht-schlagend“.

Immer wieder tauchen einzelne Burschenschaften wegen rechtsextremistischen Bezügen in den Verfassungsschutzberichten der Länder auf. Unter anderem im Sommer 2011 sorgte der DB mit dem Streit um den sogenannten “Ariernachweis” für Schlagzeilen.

(4) https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/256889/burschenschaften-geschichte-politik-und-ideologie/ |
(5) https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/500767/burschenschaften/

Nächste S-Bahn-Station: „Alle Hunde ins Tierheim“, sagt jetzt ein anderer aus der Gruppe, der etwas abseits auf den Boden schaut. Nach einem weiteren Stichwort zieht er sich in seine Ecke zurück und schweigt wieder. „Wer will denn die ganzen Hunde adoptieren?“, fragt der Blonde und deutet aus dem Fenster auf einen vorbeirauschenden Park, den er als Görlitzer Park identifiziert, offenbar ohne zu wissen, dass der eigentlich am anderen Ende der Stadt liegt. Mit „Hunden“ meint er dabei die Menschen, die in Berlins wohl bekanntestem Stadtpark illegal Drogen verkaufen, was aus verschiedenen Gründen ein großes Problem für die Dealer selbst, vor allem aber für die Anwohner ist.

Solche Beschimpfungen, wie die der Burschenschafter, sind nicht hinzunehmen, weil sie Menschen zu Tieren herabstufen sollen und ihre Menschenwürde und Individualität missachten. Die Äußerungen erinnern daran, wie wichtig es ist, die schrecklichen Gräueltaten und die Propaganda des Nationalsozialismus während des Zweiten Weltkrieges nicht zu vergessen und sich weiterhin damit zu beschäftigen. Niemand sollte sich für etwas besseres halten und schon gar nicht irgendeine Ideologie daraus konstruieren, die andere niedermacht. Sprache, Lieder und Symboliken mit Hassbotschaften können zu realen Konsequenzen führen. Das hat nichts mit „Sprachwitzen“ oder Zuspitzungen sonder Rassismus zu tun und der sollte nirgendwo akzeptiert werden.

Dass alle dem Wortführer widerspruchslos zustimmen zeigt, wie sich der Männerbund ohne jede Kritik von außen gegenseitig bestärkt. Nur der Wortführer widerspricht den anderen, und auch das nur, um seine Sprecherposition zu behaupten, nicht wegen der Ideologie selbst, die hinter den Beschimpfungen steht, die alle vier unisono von sich geben. Ich denke, dass viele solche & ähnliche Aktionen im öffentlichen Raum als etwas betrachten, das man besser nicht weiter triggert. Das Internet kann zumindest eine Gegenöffentlichkeit herstellen und damit auch widersprechen.

Ein paar menschenverachtende „Hyperbeln“ weiter steigen die Vier endlich aus der S-Bahn während ich weiter Richtung Wedding fahre. Ihre schweren Schuhe klacken über den Bahnsteig bis ein laute Warnton die Gruppe übertönt. Später in der Nacht wollen sie wieder einsteigen, sagt einer noch. Rechte Burschenschafter in einer Berliner S-Bahn am Samstagabend, 4. November 2023.

  • Laut einer Umfrage im Jahr 2021 stimmen knapp 23 Prozent der 14- bis 24-Jährigen der Aussage „Wir leben in einer rassistischen Gesellschaft“ voll und ganz zu.
  • Im Jahr 2023 stimmen rund 55 Prozent der Befragten der Aussage voll und ganz zu, dass es in Deutschland Rassismus gibt (Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung) 
  • Das Bundesamt für Verfassungsschutz geht 2020 von rund 32.000 rechtsextremistisch gesinnten Bundesbürgern aus, darunter erstmals auch die geschätzten 7.000 Anhänger des “AfD-Flügels” und der Jugendorganisation „Junge Alternative“
(6) https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1307485/umfrage/rassismus-in-der-gesellschaft-nach-soziodemografischen-merkmalen/

(7) https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1307504/umfrage/wahrnehmung-von-rassismus-in-deutschland/

(8) https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/324634/rechtsextreme-gewalt-in-deutschland/

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